Sonderpreis -Jugend- beim Krimipreis
Urkunde des Veranstalters für den separat ausgelobten Sonderpreis ”Jugend”
Bericht der Landshuter Zeitung vom 24.11.2016 als pdf download
Prämierten Krimi von Christoper Kliebenstein als pdf download
Foto: Harry Zdera
Autor: Christopher Kliebenstein
Der unsichtbare Täter
Es war eine gute Woche für die Landshuter Presse, da war sich M sicher. Ein Amoklauf findet nicht oft statt. Erst recht nicht in einer so ruhigen Stadt. Acht Schüler als Geiseln genommen und zwei Tote.
M hatte einen derartigen Frust. Scheißberuf! Dumme Teenager. Lassen sich erschießen, nur weil sie den Helden spielen wollen. Und er darf dann mal wieder Heldenhirne von Wänden kratzen. Es sah so aus, als hätte er sich die Geiseln ganz bewusst herausgepickt. Alle diese Schüler waren irgendwie eigenartig. Eine Vierzehnjährige war dafür bekannt war, dass sie viel zu kurze Miniröcke, dafür aber keine BHs trug. Der Siebzehnjährige machte kein Geheimnis daraus, dass er schwul war. Ein Mädchen schaute als einzige Beschäftigung nur aus dem Fenster und riss sich in spontanen Anfällen Haare mitsamt der Kopfhaut aus. Acht Teenager, die das Gespött der Schule waren, jeder auf seine eigene, auffällige Art. Verschwunden. War man als Jugendlicher anders, war man ausgeliefert wie ein zweibeiniges, blindes Kalb einer Herde Löwen.
Bei der Befragung der verstörten Schüler kam dabei nicht viel heraus, sie waren allesamt zu sehr mit Heulen beschäftigt und es ging alles verdammt schnell. Maskierter rein, drohen, schießen, mitnehmen, raus. Die Befragung der Eltern der Toten überließ M seinem Kollegen P, der kam besser mit in Tränen aufgelösten Leuten klar, er hatte schließlich eine Frau und zwei Töchter. Wobei im Voraus klar war, was dabei herauskommen würde. Die Opfer waren sicher alles „tolle Kinder“, die nur mit „den falschen Leuten“ zu tun hatten. Diese Ignoranz löste in M mehr Ekel aus als das Blut, das die vor den Kunstsälen verteilten Zeichnungen nun überdeckte. Die meisten dieser Bilder waren, wie seine alte Kunstlehrerin so unverblümt zu sagen pflegte, „nicht mal der Ästhetik eines Haufens Scheiße gewachsen“. Sie war eine Frau, die nicht um den heißen Brei herumredete.
M durchforschte die Schule. Er ging durch jeden einzelnen Raum. Als er an der Schultoilette vorbeikam, merkte er, dass die Vorfälle ihm nicht gerade viel Zeit für persönliche Bedürfnisse gelassen hatten. Egal, die Kinder waren doch mittlerweile sowieso alle daheim und „verarbeiteten das Geschehen“, wie die Seelenklempner immer so pseudoheilig tönten.
Er stieß also die schwer zu öffnende Klotür auf und setzte sich erleichtert hin. Während er sein Geschäft verrichtete, studierte er die philosophischen Kritzeleien und in das Holz geritzten Botschaften an den Wänden der Kabine. „Veni, vidi, vodka“, „Florian stinkt“, „Ich habe ihnen geholfen“. Moment mal: „Ich haben ihnen geholfen“? M stand auf und sah sich die vier in die Klotür geritzten Wörter genauer an.
Kein Schüler würde so etwas Unkreatives an einer Toilettentüre hinterlassen. Es musste der Täter gewesen sein. Die Schrift war erstaunlich tief, mit einem Messer geschnitzt. Vergessen war M´s üblicher Frust. Lag es hier noch irgendwo?
Sein Instinkt ließ ihn, wenn auch widerwillig und knurrend das WC in Augenschein nehmen, das er eben noch so erleichtert benutzt hatte. „Bingo!“, murmelte er, wenn auch leicht angeekelt. Der Täter hatte versucht, das Messer wegzuspülen. Was er jedoch nicht bemerkt hatte war, dass es sich verkeilt hatte. M fischte es aus dem nicht ganz klaren Klowasser. Heilige Scheiße, das war ein Jagdmesser. Eines, das man benutzt um Rehe auszuweiden oder einem verletztem Bock den Gnadenstoß zu verpassen. Dass jemand so etwas in ein Gebäude voller Minderjähriger mitnahm, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Erst dann bemerkte er die potenzielle Wichtigkeit dieses Messers. Fest stehender Schaft, so einfach kommt man an etwas so Gefährliches nicht heran, man braucht eine Lizenz.
Der Täter war also ein Jäger oder hatte es sich von einem genommen. Erwartungsvoll drehte M es in den Händen und gewann prompt das zweite Bingospiel des Tages, seine Oma wäre eifersüchtig. Auf der Klinge waren nach alter Tradition die Initialen des Jägers zu sehen. „CT“
Ein bisschen Behördenrecherche, sollte nicht zu schwierig sein. Vom Jäger zum Versteck im Wald war es auch nicht weit. Eine Hütte wäre der perfekte Ort für entführte Geiseln.
M gab P den Auftrag, das Jägerlatein zu entwirren. Für ihn selbst blieb die Drecksarbeit: Killer stellen. M fuhr in sein Büro und legte sich auf das Sofa, während er auf P’s Info wartete. Er nickte kurz ein und wachte schweißgebadet auf. Die dunklen Schatten seiner Phantasie legten sich endgültig über ihn und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Kaffee war die einzige Alternative. Nach seinem vierten schwarzen Gebräu meldete sich endlich P. Zwanzig Kilometer östlich von Landshut gab es einen passenden Jäger, der für einen kleinen Wald verantwortlich war. Ganz weit draußen, am „Arsch der Welt“. P fragte anstandshalber, ob er mitkommen solle. Aber M verneinte. Mit P hätte er nur ein weiteres Weichei an der Backe, das sich um sich selbst Sorgen macht. Sein Magen sträubte sich, als er in den dunklen Wald hineinfuhr. Nach ein paar Minuten Fahrt bemerkte er Rauch in der Nähe und entschied sich, sein Auto abzustellen. Blätter und Steine raschelten und knirschten unter seinen Schritten. M ging geradeaus auf eine kleine Jägerhütte zu. Es brannte Licht und man konnte die Bewegung eines Schattens darin erkennen.
Wie in einem Agentenfilm stieß M die Türe mit Nachdruck auf. Sechzehn Kinderaugen blickten ihn an, einige waren gefüllt mit Tränen. Einer stierte ihm stumm eine Warnung zu. M hielt inne und schon stürzte jemand von links auf ihn zu, stolperte jedoch und fiel auf den knirschenden, alten Boden. Der Mann auf dem Boden schluchzte und murmelte irgendetwas vor sich hin. M wollte ihn packen und zur Rede stellen, doch gerade als seine Finger dessen Handgelenk umschließen wollten, sprang der Entführer auf und spuckte ihm ins Gesicht. Der Mann versuchte, die Verwunderung Ms auszunutzen, aber er hielt den Spuckenden mit einem kräftigen Griff in seine langen, fettigen Haare davon ab und drückte ihn gegen die Wand. Irgendetwas in den Augen des Angreifers veränderte sich, das kurze kampffreudige Aufleuchten war verschwunden und da war wieder der tollpatschige Mann von vorher.
„Vorsicht!“, schrie einer der Jugendlichen, der rothaarige Nerd, der ihn vorhin schon einmal gewarnt hatte, „Vorsicht! Er bleibt nicht lange so brav!“ Die Warnung wäre bei M nicht nötig gewesen. Er schenkte dem Verrückten seine volle Aufmerksamkeit. Auf keinen Fall sollte dieser sich ihm noch mal entwenden.
„Ich war das nicht, wirklich!“, schluchzte der Mann sichtlich aufgelöst und mit einer piepsigen Stimme,
„Ich bin hier aufgewacht und auf einmal waren diese Kinder da! Ich habe gefragt, was sie hier machen, aber dann fiel mir auf, dass irgendjemand sie festgebunden hat. Jedes Mal, wenn ich sie losbinden will, schlafe ich ein, bin weg. Helfen sie mir!“
M war erschüttert. Er wusste von Erinnerungslücken bei Schizophrenen. Aber dass es so etwas geben konnte! War das etwa eine multiple Persönlichkeit?
Als hätte er seine Gedanken gehört, riss sich der Mann plötzlich los. Seine Augen brannten vor Wahnsinn. Der Kommissar wollte auf ihn zulaufen, doch er stoppte, als er sah, dass der Mann nun eine Pistole in der Hand hielt. Um die Kinder zu schützen, ging er mit erhobenen Händen langsam einige Schritte zurück.
Der wutentbrannte Mann, der in der Mitte des Raumes stand, war der Entführer…Doktor fucking Jekyll und Mister Hyde.
„Ihr versteht das nicht. ICH helfe ihnen, ICH schütze sie vor der verdammten Gesellschaft. Schau sie dir an, die jämmerlichen Häufchen in der Ecke. Verurteilt, verrufen und verletzt. Wie ich, oder besser wie er hier drin!“, er deutete auf seine eigene Brust, „ Und wieso? Weil sie anders sind! Was ist denn bitte das scheiß Problem daran, dass wir nicht so langweilig sind wie ihr? Mich habt ihr ruiniert! Und ich werde es nicht zulassen, dass sie so enden wie ich!“
Jetzt hatte der Verrückte die Waffe auf M gerichtet. Die Schüler wimmerten. Der Kommissar hob beschwichtigend die Hand.
„Du musst doch wissen, dass dein Plan verrückt ist. Was willst du machen, hm? Sie ihr ganzes Leben lang in einer Holzhütte in einem verdammten Wald leben lassen?“
Der Entführer wurde nervös. Soweit hatte er offensichtlich noch gar nicht gedacht.
„Schau diesen Kindern doch in die Augen, du gottverdammter Dummkopf? Siehst du Erleichterung? Oder siehst du Angst?“
Ms Rede hatte offensichtlich etwas gebracht, denn da stand jetzt wieder der Tollpatsch und blickte verwirrt auf die Kinder.
„Neinneinnein,“, stammelte er vor sich hin, „ich kann das nicht tun. Ich will das nicht tun!“
Dann wurde sein Blick hart. Er drehte sich wieder herum, entsicherte seine Waffe und fuchtelte in alle möglichen Richtungen, als ob er nicht wisse, was er tun solle und wohin er zielen solle.
Er ging in die Knie, mit tränenüberfüllten Augen sah er zu M auf. Dann, in einer einzigen entschlossenen Bewegung ruckte die Waffe zu ihm selbst herum, die Mündung zeigte nun mitten auf seinen eigenen Kopf. „Ich war es nicht.“, sagte er und drückte ab.